Als die Isenburger Lis die Juden roch

Im Gasthof »Weilquelle« auf der Kreuzung zwischen Ober- und Niederreifenberg im Taunus lernte ich Lis kennen. Sie war in Neu-Isenburg zu Hause, hatte mit ihrer Arbeitskollegin Marga eine Radtour gemacht und in der »Weilquelle« eine Mittagspause eingelegt. Ich setzte mich mit meinem Freund René zu ihnen an den Tisch und wir kamen uns schnell näher. René hatte ein Auge auf Marga, und ich beschäftigte mich mit der kleinen und sehr lustigen Lis. Wir Jungen waren den Mädchen auch nicht unsympathisch, und es wurde ein recht angenehmer Nachmittag.

Später luden wir Lis und Marga zum Kaffeetrinken in unsere Wochenendhütte in Niederreifenberg ein. Fast jedes Wochenende waren wir dort und hatten immer viele Freunde zu Besuch, auch über Nacht. Auf zwei großen übereinandergebauten Pritschen schliefen unten die Mädchen und oben die Jungen.

Lis und Marga ließen sich nicht lange bitten und kamen mit uns. René spielte Gitarre, wir sangen Wanderlieder, und am Abend fuhren wir mit den Fahrrädern nach Hause. Seitdem kam Lis fast jedes Wochenende mit uns nach Niederreifenberg. Diese Freundschaft, die sich auf gemeinsame Wanderungen und Übernachtungen im Taunus beschränkte, hatte für mich den großen Vorteil, daß sie von Mama nicht erahnt werden konnte. Für sie war jede Mädchenbekanntschaft, die ich machte, eine potentielle Gefahr für die Familie und wurde nach Möglichkeit hintertrieben.

Lis zierte sich nicht, war ein netter Kumpel, schwatzte drauflos, manchmal etwas zu viel, und wenn wir Glück hatten oder ich es so arrangieren konnte, schliefen wir auch mal eine ganze Nacht allein in unserer Hütte und liebten uns.

Die Isenburger Lis, so wurde sie in meinem Freundeskreis genannt, war in der Liebe auch nicht viel erfahrener als ich und ebenso phantasielos. So liebten wir uns, so gut es eben ging. Natürlich ging es, wir kamen beide auf unsere Kosten und waren glücklich, und es hätte noch lange weitergehen können. Und doch war unsere Liebschaft nicht von langer Dauer.

Wieder einmal waren wir in unserer Niederreifenberger Hütte und genossen die Stunden des Alleinseins. Ich weiß noch, daß die zierliche Lis sehr kleine Brüste hatte, die ganz verschwanden, wenn sie sich satt und zufrieden nach hinten kippen ließ und die Arme unter dem Kopf verschränkte. Nur die in einem dunklen Hof eingebetteten Brustwarzen standen wie große braune Druckknöpfe aufrecht. Ich hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, sie über ihr Verhältnis zur Politik im allgemeinen und zu Hitler und den Judenverfolgungen im speziellen zu befragen. Natürlich war ich neugierig, sie auch von dieser Seite kennenzulernen. Erfahrene Liebhaber werden einwenden, daß das nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt für politische Gespräche gewesen war. Aber wir hatten uns schon vorher all die Zärtlichkeiten gesagt, die man sich üblicherweise bei solcher Gelegenheit sagt; außerdem wollte ich keinesfalls, eingehüllt in den wunderbaren Geruch der Liebe, ernsthafte politische Gespräche führen, sondern die Isenburger Lis nur ein wenig aushorchen, um ihr vielleicht noch ein Stück näher zu kommen, um sie noch ein bißchen mehr lieben zu können.

Hier muß ich einfügen, daß das im Mai oder Juni 1939 war und die Verfolgung der Juden in vollem Gange. In Frankfurt lebten von ehemals dreißigtausend nur noch rund zehntausend Juden. Viele waren beizeiten ausgewandert, die meisten jedoch in die Konzentrationslager deportiert worden, und die Zurückgebliebenen warteten täglich auf ihren Abtransport. Außerdem roch es bereits nach Krieg.

Ich fragte also die Isenburger Lis, ob sie im BdM sei, und war froh, daß sie es verneinte. Sie interessiere sich überhaupt nicht für Politik und habe auch nichts gegen die Juden, versicherte sie, und ich freute mich noch mehr und war besonders zärtlich zu ihr. Dann sagte sie noch etwas sehr Vernünftiges:

»Ich glaube, es gibt, genau wie bei uns, auch unter den Juden gute und schlechte Menschen. Ich habe sogar eine Freundin gehabt, die Jüdin war. Ihre Familie ist nach Amerika ausgewandert. Und viele Kunden in unserer Gärtnerei waren Juden.«

»Dann hast du also nichts gegen die Juden?« »Das sagte ich dir schon.« Ich drückte sie noch einmal.

»Aber etwas ist mit den Juden, Vali, was ich selbst beobachtet habe. Sie sind eine ganz andere Rasse als wir, das läßt sich nicht leugnen. Sie sind uns fremd.«

Vorsichtig und neugierig fragte ich: »In welcher Beziehung sind sie uns fremd?«

»In jeder Beziehung. Sie sind so ganz anders als wir, in der Art, wie sie sich geben und wie sie sich bewegen und vor allem auch in ihrem Geruch.«

»In ihrem Geruch? Das verstehe ich nicht.«

»Wenn du so viel mit Juden zu tun gehabt hättest wie ich mit unserer Kundschaft, würdest du das verstehen.« »Erklär es mir.«

»Ganz einfach: ob es arme oder reiche Juden sind, alte oder junge, Mann oder Frau, sie haben alle den gleichen intensiven unangenehmen Geruch, eben den typisch jüdischen Geruch.«

Zu diesem Zeitpunkt hörte der Geruch unserer Liebe auf, betörend zu sein, jetzt roch es nur noch.

Lis fuhr fort: »Wenn du eine so empfindliche Nase hast wie ich, kannst du einen Juden unter hundert Christen herausfinden.«

Sie war sehr besorgt, als ich ihr sagte, mir sei plötzlich gar nicht gut. Ich kletterte schnell auf die obere Pritsche und schlief die Nacht allein. Sie verstand auch nicht, warum ich unser Verhältnis ohne eine Erklärung beendete.

 

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